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Harte Prüfung in den Bergen

Ötztaler Radmarathon 2023

Selbst bei perfekten Bedingungen gehört der "Ötzi" zu den anspruchsvollsten Tests an einem Tag, denen du dich als Radsport-Amateur stellen kannst. 227 Kilometer und vier Alpenpässe mit insgesamt 5.300 Höhenmetern zeigen dir gnadenlos deine Defizite auf. Kommen technische Probleme dazu, wird der Ötztaler auch noch zum Nervenkrimi. So oder so: Ein Tag auf dem Rennrad, den du nie wieder vergessen wirst. Dieses Jahr wurde es heiß. Richtig heiß.

Die kühle Morgenluft peitscht mir um die Ohren, am Hinterrad kreischt der Freilauf. Mit über 60 Stundenkilometern kauere ich im Windschatten einer Gruppe von einigen Dutzend Fahrern auf dem Weg nach Ötz und bringe meinen noch ziemlich morgenmüden Organismus mit bewusst moderaten Wattzahlen langsam auf Trab. Ich habe schlecht geschlafen und fühle mich alles andere als fit. Alle sind nervös, ich kann die Anspannung im Feld greifen, die ersten Kilometer sind brandgefährlich.

 

Das Monsterfeld mit über 4.000 Teilnehmern fährt noch eng beieinander, die erste selektive Prüfung kommt ja erst ab Ötz. Das leichte Gefälle von durchschnittlich 1,5% , das uns seit dem Start in Sölden begleitet, sorgt für diesen rasanten Start. Jeder hofft, dass die ersten 40 Kilometer sturzfrei verlaufen. Dass dir keine übermotivierte Heißdüse unkontrolliert ins Hinterrad knallt und deinen Traum beendet, noch bevor er richtig begonnen hat. Kann immer passieren, hier kann beileibe nicht jeder mit der Geschwindigkeit in einem engen Feld umgehen. In Ötz wird der rasante Spaß abrupt enden und in einer 90-Grad-Rechtskurve direkt in den knackigen Anstieg aufs Kühtai münden, der ersten von vier eisenharten Bergwertungen, die wir heute vor uns haben.


Der Defekt

Während wir in Richtung Ötz knallen, werfe ich einen Routineblick auf die fein geölte Kette – und erstarre: Warum zur Hölle hängt das verdammte Ding denn jetzt schon wieder durch? Ich hab doch extra noch mal zwei Glieder aus der Kette genommen, damit das nicht mehr passiert! Beim RadRace 120 im Mai war mir auf den Abfahrten mehrfach die Kette vom Blatt gesprungen – und ich dachte, sie sei vielleicht nicht richtig gekürzt. Eigens für die 18%-Passagen am Riedbergpass hatte ich mir die kabellose Gravelschaltung SRAM XPLR 1x12 montiert. Sie bescherte mir eine hohe Schaltbandbreite und damit mehr Komfort. Viele hundert Trainingskilometer hatte ich mit dem Setup absolviert - und keinerlei Probleme bemerkt. Zusätzlich hatte ich einen Chain Guide montiert, wie er bei Mountainbikes üblich ist, um bei harten Trailabfahrten die Kette gegen Abspringen zu sichern. Ganz offensichtlich liegt das Problem aber woanders. Das realisiere ich jetzt, ausgerechnet am Anfang der härtesten Prüfung des Jahres!


Frustriert manövriere ich meinen Renner aus dem Feld an den Straßenrand und bremse kontrolliert ab. Das Feld, in dessen Windschatten ich mich kraftsparend bewegt habe, entfernt sich schnell. Reihe ich mich eben in die nächste Gruppe ein. Wenig später passiert jedoch das Gleiche nochmal. Und dann nochmal. Und ein viertes Mal. Wir sind noch nicht einmal in Ötz, meine Hände sind bereits ölverschmiert und schwarz verdreckt. Ich realisiere: Das wird ein Drama. Der eigentliche Grund für die springende Kette wird mir bald klar werden.


Murphy meint es nicht gut mit mir

Wir erreichen das Kühtai, die Morgensonne taucht den Anstieg durch die Ortschaft Ochsengarten in ein goldenes Sommerlicht, die Stecke ist dicht gesäumt von zahlreichen Zuschauern, die Stimmung großartig. Beifall, Johlen, Anfeuerungsrufe, Kuhglocken - wie bei einem Profirennen. Meine Stimmung jedoch ist am Boden. Ich bin Gruppe um Gruppe zurückgefallen, nun steige ich ab, um der Sache auf den Grund zu gehen, so hat das keinen Sinn. Das Hinterrad dreht sich ganz normal, wenn ich an der Kurbel drehe, ich kann beim besten Willen nichts feststellen. Als ich dann das Hinterrad abnehme, rutscht mir das Freilaufgehäuse mitsamt Kassette widerstandslos von der Steckachse herunter und fällt ab. Aus dem Freilaufkörper bröseln kleine metallene Bruchstücke.


Jetzt realisiere ich das Problem: Von den ursprünglich sechs Sperrklinken im Freilauf sind lediglich noch zwei übrig und intakt. Die anderen sind gebrochen bzw. schlicht nicht mehr da. Wie kann das passieren? In einem geschlossenen Gehäuse? Ich erinnere mich wieder an das RadRace120: Am Riedbergpass hatte sich die Steckachse gelöst – offenbar hatte ich sie nach dem Transport nicht fest genug angezogen. Ich hatte das Problem zwar rechtzeitig bemerkt und konnte es schnell beheben. Aber ich bin ein ziemliches Stück mit loser Achse gefahren. Dabei muss sich der Freilaufkörper mit der Kassette die ein, zwei Zentimeter geöffnet haben, dass ich dabei mehrere Sperrklinken verloren haben muss. Und eine ist gebrochen. Jetzt ist auch klar, wieso die Kette immer abspringt: Der Freilauf arbeitet nicht mehr richtig. Die ganze Zeit schon nicht. Da hilft auch der Chain Guide nichts.


19.000 Bewerber auf 4.100 Startplätze

Der Ötztaler ist ein Monument. Eins der größten Radrennen überhaupt für Amateure. 227 Kilometer in unfassbar schöner Landschaft, mit erbarmungslosen 5.300 Höhenmetern über vier Alpenpässe und Abfahrten mit über 100 km/h. Maximal prestigeträchtig. Wenn du ihn einmal gefinisht hast, gehörst du dazu. Wie jedes Jahr haben sich auch für die 42. Ausgabe des Ötztaler Radmarathon fünfmal mehr Interessenten beworben als Startplätze zur Verfügung stehen: rund 19.000 Aspiranten auf etwas über 4.000 Plätze. Und wie jedes Jahr trauen sich viel zu wenige Frauen an den Start (nur etwa 11 Prozent).


In einer Excel-Tabelle habe ich mir akribisch die Leistungsdaten für jedes einzelne Segment dieses Extrem-Klassikers notiert – ich weiß ziemlich genau, welche Wattzahlen ich an Kühtai, Brenner, Jaufen und Timmelsjoch treten darf, um nicht zu überpacen – und treten muss, um meine Zielzeit zu realisieren. Mein Leistungs-Gewichtsverhältnis ermöglicht je nach Jahreszeit, Trainingsstand und Tagesform irgendwas zwischen 2,5 und 3,2 Watt pro Kilogramm Körpergewicht. Für Amateure ist das ganz ordentlich, mit 78 Kilogramm bei 187 cm Körpergröße ist es aber zu wenig, um je wirklich was am Berg reißen zu können. Nirgends wird ein ungünstiges Kraft-Gewichtsverhältnis härter bestraft als bei einem Bergrennen wie diesem. Eine Zielzeit von unter zehn Stunden habe ich mir ausgerechnet. Wenn ich gute Beine habe, sind theoretisch sogar 9:30 drin – für mich wäre das ein großartiges Ergebnis. So wie es im Moment aussieht, muss ich jedoch froh sein, wenn ich das Ziel heute überhaupt erreiche.


Dieses Jahr findet der Ötzi ausnahmsweise Anfang Juli statt, und meine 3.500 Trainingskilometer bis dato sind die Unterkante dessen, was überhaupt in Frage kommt, wenn du halbwegs mit Anstand ins Ziel kommen willst. Trotzdem musste der Ötzi dieses Jahr sein, gerade weil er Anfang Juli stattfand: Zum traditionellen Termin im September sind in Bayern Schulferien, und diese Zeit ist für den Familienurlaub reserviert – ein Start Anfang September war bislang nie zu organisieren für mich.


2024 wird der „Ötzi“ wieder Anfang September stattfinden – die Veranstalter haben sich mit den durchfahrenen Gemeinden geeinigt. Hauptgrund war die Ortsdurchfahrt in Sterzing, die ja bereits in diesem Jahr durch eine Zusatzschleife umfahren wurde, und die dadurch die Straßensperren so aus den heißen Zonen verlagert, dass es weder Stress mit den Anwohnern noch mit dem Touristen-Durchgangsverkehr gibt. September ist besser – für alle.


Bring das Ding irgendwie ins Ziel

Mit den Bröseln der gebrochenen Sperrklinke in der Hand stehe ich ratlos in Ochsengarten. Aufgeben? Aufgeben ist keine Option. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde versuchen, die angeschlagene Mühle so behutsam wie möglich übers Timmelsjoch und nach Sölden zu tragen. Der kaputte Freilaufkörper erfordert eine etwas andere Fahrtechnik: Bei den Abfahrten schalte ich immer auf leichtere Gänge, um die Kette stärker unter Spannung zu halten. Dadurch verzichte ich auf Leistung im dicksten Gang und lasse konstant Speed liegen. Die Fahrweise kostet zudem auch in den Abfahrten ständige Konzentration. Ist mir aber lieber als ständig absteigen zu müssen weil die Kette wieder runter ist.


In der Abfahrt vom Kühtai könnte ich spielend die 100 Stundenkilometer überschreiten, zum ersten Mal überhaupt. Der Asphalt ist gut, ich vertraue meinen 28er Tubeless GP5000 S TR, die ich gemäß den Empfehlungen des SRAM-Rechners online vorn mit 4,2 und hinten mit 4,6 bar befüllt habe. Das ist deutlich weniger als früher üblich, und auch deutlich weniger als ich selbst aufpumpen würde. Der Rechner sagt jedoch, das sei die schnellste Variante bei dieser Maulweite der Felge, dieser Bereifung und meinem Körpergewicht. Das habe ich im Vorfeld natürlich ausgiebig im Training getestet. Es ist super. Die Conti haften in den Kurven wie der Teufel, der reduzierte Druck verringert die Vibrationen und steigert enorm den Komfort – für den Rücken ebenso wie für die Handgelenke. Dennoch achte ich konzentriert auf Bodenwellen und die berüchtigten Kuhgatter in der Abfahrt. Es genügt, locker aus dem Sattel zu gehen und sauber auf den Pedalen zu stehen, ohne abzuheben. Bunnyhop ist Quatsch bei der Speed, sogar unnötig gefährlich, finde ich.


Mein Wahoo Elemnt zeigt 93,2 km/h, während ich schon wieder nervös nach der Kette schiele. Ich habe wieder ein paar Gänge nach links geschaltet und vermeide jede Pedalbewegung in der Abfahrt. Ein paar Sekunden später kommen die nächsten Kurven, und die Chance auf den persönlichen Speedrekord ist vorbei.


Rein in den nächsten Anstieg: Der Brenner

Jetzt schalte ich nur noch sehr sanft, nehme vorher bewusst den Druck von der Kette und trete sehr vorsichtig. Ich stehe nicht mehr auf, verzichte komplett auf Wiegetritt, obwohl meine Beine und der Rücken in den endlosen Anstiegen nach Entlastung schreien. Es wird jetzt richtig heiß. In Innsbruck Stadt trifft uns die Hitze wie ein Schlag, der Schweiß rinnt in Strömen, an den Anstiegen fehlt jeder kühlende Fahrtwind. Einige Anwohner haben Gartenschläuche angeschlossen und besprühen das Feld – eine willkommene Wohltat.


Der Brenner tut nicht besonders weh, und da es bei mir um nichts mehr geht, muss ich an keiner Guppe dranbleiben, fahre so konstant wie möglich und rolle bald in den nächsten Anstieg, den Jaufenpass. Gefühlt wird das die schwierigste Prüfung. Die Straße zieht sich ewig durch den Wald, es geht einfach nichts vorwärts. Die Uhr tickt, und ich zittere innerlich, ob mein Rad durchhalten wird. Jetzt, wo ich schon so weit gekommen bin. In den Bergen kannst du spielend Zeit liegen lassen, und am Jaufenpass stelle ich fest, dass ich anfangen muss zu rechnen. Meine Standzeiten summieren sich bereits auf weit über eine Stunde, die Hitze macht mir zu schaffen, obwohl ich Hitze gut vertrage, und ich beginne einsetzende Erschöpfung zu spüren. Beim Eintagesrennen ISTRIA300 in Kroatien (mit ähnlich vielen Höhenmetern wie der Ötztaler – nur anders verteilt), hatte ich auf 300 Kilometer lediglich 12 Minuten Standzeit. Das sieht heute anders aus. Das Zeitlimit am Jaufen packe ich dann doch relativ safe.


Timmelsjoch – fast da

Das Timmelsjoch ist dann Qual und Genuss zugleich: Ewig lang – aber in meiner Pace nicht zu hart. Ich muss nicht absteigen, so wie etliche um mich herum, bei denen der Tank sichtbar leer ist. Ich möchte absteigen, die Aussicht ist atemberaubend, die Nachmittagssonne wundervoll. Aber ich kann nicht. Ich muss weiter. Als wir den Tunnel auf der Passhöhe erreichen, fröstle ich. Das nasse Trikot, die Höhe, die Erschöpfung. Doch ich habe es fast geschafft. Nur noch wenige Kilometer bis Sölden. Weiter, immer weiter.


Im Ziel fällt dann die gesamte Anspannung schlagartig von mir ab. Ich sehe schlimm aus, ölverschmiert, das Trikot weiß verkrustet von getrockneten Salzrändern, der Mund nur noch ein dünner harter Strich. Aber ich bin glücklich. Das Rad hat gehalten. Ich habe nicht aufgegeben. Die Zeit bleibt bei 12:51 stehen, zwei Stunden Standzeiten, das Meiste für Reparaturen. Ich gehe in die Turnhalle und hole mir mein Finishertrikot.


Finale

Nichts ist leichter, als mit den Radrennen aufzuhören. Ich persönlich habe es schon 248-mal geschafft. Jetzt bin ich 58 Jahre alt, und jedes Mal schwöre ich mir: Das war das letzte Mal. Tue ich das nicht, war es nicht intensiv genug. Dann habe ich nicht alles gegeben. Der Ötztaler Radmarathon ist vermutlich das am besten geeignete Amateur-Radrennen der Welt, um direkt danach aufhören zu wollen. Und den Vorsatz drei Tage später schon wieder zu vergessen. 

Auf diese Weise glücklich zu sein, ist möglicherweise ein bisschen irre. Aber das ist mir egal. Es ist der beste Sport der Welt, und ich werde erst damit aufhören, wenn ich nicht mehr aus eigener Kraft aufs Rad komme. Put me back on my bike!


P.S. Der Freilauf ist getauscht, das treue Bike komplett überholt. Mal sehen...

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