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Überschreitung Obergabelhorn über Arbengrat

Unwetter am Matterhorn

Das Obergabelhorn steht in direkter Sichtweite zum Matterhorn, ist mit 4.063 Metern knapp 400 Meter niedriger als der viel berühmtere Nachbar. Die Überschreitung des Obergabelhorns über Arbengrat und Wellenkuppe steht dem Hörnligrat am Matterhorn in punkto Länge und alpinen Schwierigkeiten aber in nichts nach.

Es ist Juli 2020. Nach drei Hochtouren-Tagen im Wallis nun also das Arbenbiwak (3.225 m). Nicht zu verwechseln mit einer klassischen Biwakschachtel - und auch nicht mit einem spartanischen Winterraum. Das Arbenbiwak ist eine kleine charmante aus Stein gebaute, innen mit Holz verkleidete, voll ausgestattete und sehr gemütliche Selbstversorger-Hütte am Fuß des Obergabelhorns. 

Es bietet 15 Schlafplätze auf drei Stockbettetagen, eine kleine Küche mit drei Gaskochern und ein Klohäuschen, durch dessen Schüssel permanent Wasser rauscht, so dass es dort angenehm sauber und geruchsfrei ist. Zum Klohäusel gelangt man allerdings nur durch einen kleinen Abstieg über den Felssteig, was bei Nacht, im Halbschlaf, bei Regen und Vereisung durchaus mal zu einer außergewöhnlichen Sitzung führen kann: Beim Toilettengang ins Steile abzuschmieren, ist vermutlich die skurrilste aller Möglichkeiten, eine außergewöhnliche Gedenktafel am Berg zu kriegen. Allerding ist nur selten Anfänger, wer im Arbenbiwak nächtigt, und deshalb sorgt die slightly exaltierte Klohäusel-Kraxelei eher für Erheiterung (sofern man auch rechtzeitig merkt, dass Klopapier schon wieder alle ist). 


Der darauffolgende Tag bietet jedenfalls zwei Hauptvarianten: entweder die Überschreitung des Obergabelhorns (4.063 Meter) über den grandiosen Arbengrat – oder die 19 Seillängen in der Obergabelhorn-Südwand bis zum oberen fünften Schwierigkeitsgrad (V+ UIAA). Die Südwand hätte mich auch gereizt: Nicht nur, weil sie wundervoll geschützt im Windschatten liegt, sondern auch herrlich kompakten griffigen Fels bietet und von den Schwierigkeiten exakt meinem Geschmack entspricht.


Für uns stand jedenfalls die Überschreitung Süd-Nord auf dem Programm, zum Gipfel über den Arbengrat und mit Abstieg über die Wellenkuppe (3.903 m) und deren Nordostgrat und von dort über den Gletscher bis zur Rothornhütte. 


Nach der kräftezehrenden Tour vom Vortag an der Dent Blanche haben wir uns Zeit gelassen mit dem Aufstieg von der Schönbielhütte über den vergletscherten Sattel zwischen Hohwäng- und Äbihorn und den kurzen, mit Ketten versicherten Felssteig vor dem Arbenbiwak. Wir bleiben aber bei aller Gemütlichkeit genau im kalkulierten Zeitfenster von rund vier Stunden für die rund 1.000 Höhenmeter und sind mittags da. Als wir eintreffen, verlassen gerade die letzten Besucher der vorangegangenen Nacht das Biwak talwärts gen Zermatt, und wir sind erst mal für uns.

Nicht ohne Grund gilt das Arbenbiwak als Schlafplatz mit der wohl spektakulärsten Aussichtsterrasse im Wallis. Während wir Stiefel, Seil, Steigeisen und Socken zum Trocknen in der Sonne ausbreiten, genießen wir allerbeste Sicht auf die Gewitterfront, die sich mächtig und finster am gegenüberliegenden Matterhorn aufbaut. Mit Wind aus Südsüdwest gibt es zwar vorerst nix zu befürchten. Die Wolken ziehen stracks Richtung Spaghettirunde - hoffentlich haben sie da keinem den Spaß verdorben. Das dicke Ende kommt dann aber gegen Abend, mit fett Regen und ein paar Donnerschlägen. 


Hatten wir anfangs gehofft, im Biwak unter uns zu bleiben (das Wetter sollte ja echt kacke werden) sehen wir uns bald vom Gegenteil belehrt. Das Arbenbiwak hat nicht nur den soliden Ruf, urgemütlich zu sein. Als Selbstversorgerhütte zieht es auch bevorzugt ganz Schlaue an, die sich nicht vorher anmelden, und die die liebevoll gepflegte alpine Infrastruktur gratis mitbenutzen, ohne selbst etwas zu geben. Rumpelstilzchen möge sie rasieren! Wenn also bei 15 offiziellen Schlafplätzen und trotz Corona plötzlich 20 oder noch mehr Paar Stiefel vor der Tür abstinken, drückt das ein bisschen auf die Laune – und die Stiefelträger die verfügbare Matratzenbreite im Lager.


Während Julian sich mit dem Seil abschleppt, habe ich die ersten Tage eine Packung Spaghetti und drei Tüten Soße durchs Wallis gekraxelt – ein super Deal wie ich finde, denn das halbe Kilo Nuedeli würde sich früher oder später in Wohlgefallen auflösen, das Seil hoffentlich nicht! Jedenfalls hatten wir Pasta inkl. Soßen innerhalb weniger Minuten eingeatmet – eieiei, da hatte sich ja ein ordentliches Kohlenhydratdefizit aufgebaut über die letzten Tage!

Wir beschließen, erst bei Tagesanbruch aufzubrechen und quetschen uns in die Schlafsäcke. Kein Bock auf Stress mit frühen Vögeln, vereinfachte Wegfindung by Hinterherhatschn ist ja durchaus angenehm. Ein Fehler, wie sich später herausstellt.


Wir lassen also den Heißdüsen den Vortritt und machen uns schließlich um kurz nach sechs selbst auf den Weg. Bald haben wir die Südflanke überwunden und stehen auf dem Grat. Der Arbengrat ist ein alpiner Traum: bester Fels in mehreren Farben von dunkel bis ganz hell, griffig, großartige Kletterei, spektakulär, Wegfindung bis auf wenige Stellen ziemlich logisch. Über die alpinen Feinheiten dieser Route ist schon so viel erzählt worden, ich kürze mal eben ab bis zum Gipfel. Vielleicht verdient noch die Schlüsselstelle eine extra Erwähnung, die in etwa so abgespeckt ist wie die Sportkletterrouten in Arco, nur dass man dort nicht mit Rucksack, Bergstiefeln und Handschuhen klettert. Das mit den Handschuhen hätte ich auch sein lassen können, aber ich habe ja ausgewiesenes Talent, es mir unnötig schwer zu machen, sagt Julian. Ging dann aber trotzdem.


Punkt zwölf stehen wir auf dem Gipfel des Obergabelhorns – nicht gerade rekordverdächtig. Wir können aber zufrieden sein. Allerdings ganz und gar nicht mit dem Wetter: Da drüben am Matterhorn braut sich schon wieder was zusammen, trotz des entspannten Forecasts. Zum Glück steht der Wind weiter günstig, so dass nicht zu befürchten steht, dass da gleich was rüberkommt. Trotzdem. Keine Zeit für langen Zinnober, abseilen jetzt, und zwar dalli, dreimal, fünfmal, zehnmal. 


Noch liegt die Wellenkuppe vor uns, und vor dort hat man ja nochmals einen langen Abstieg. Den großen Gendarmen haben sie jedenfalls christomäßig mit Fixseilen verpackt. Ist mir völlig unverständlich, warum dort stattdessen nicht einfach ein paar anständige Bolts zum Hoch- und Runtersichern in solidem Fels kleben. Ach so ja klar, das ist der Normalweg, den muss man ja matterhornlike entschärfen. Nicht. Weiter oben gibt es mehrere Aufschwünge, die sind kein bisschen einfacher – aber statt Fixseilen haben sie da nur ein paar ausgefranste Schlingen als Stände. Ts. 


Schön ist die Gangway am Berg zwar nicht, uns aber gerade recht, weil sie den Abstieg beschleunigt. Während wir so am Seil runterhampeln, kommt die Rega vorbeigeknattert, nur mal so zur Sicherheit gucken, wer noch am Berg ist. Könnt ja ein Gewitter geben. Das ist zwar überaus nett von der Rega, trägt aber auch nicht eben zur Senkung des Blutdrucks bei.

Dann nochmal volle Konzentration beim Weg über den vergletscherten Nordost-Grat: Im sulzigen Firn geht es sich auch mit Steigeisen nicht mehr ganz so easy wie bei anständigem Frost. Immerhin ist der steile Firngrat noch nicht blank, wird er aber in paar Wochen sein, wenn die Sonne weiter so reinknallt, und dann musst du mit Eisschrauben runtersichern. Wir können uns von und zu schreiben, dass wir uns das jetzt sparen können. 


Runter über die letzten Felsstellen, rein in den Schutthaufen – aargh, mein Lieblingsabstiegsgelände! Geht aber doch relativ gut und flott, kein Vergleich zur Wandflue an der Dent Blanche vorgestern, überall Stoamanderl hier, der Weg klar sichtbar und ordentlich abgeschottert von Tausenden Füßen, die da schon vor uns lang sind. Aufpassen musst du trotzdem, aber bald stehen wir auf dem Gletscher. Vorsicht, Spaltensturzgefahr, Seil gespannt! Jetzt nochmal alles geben, wir hasten durch den Sulz, hier akute Steinschlaggefahr von links, der ganze Schnee liegt voller Bruchtrümmer, mir geht die Pumpe am Anschlag. Irgendwann setze ich mich einfach auf den Hosenboden der wasserdichten Funktionshose und rutsche talwärts, 50 Meter, 60 vielleicht. 


Ende der Gefahrenzone. Der Rest über den sulzig-nassen Gletscher bis zur Rothornhütte ist lockeres Ausgehen. Puls beruhigt sich. Das Gewitter! Wo ist eigentlich das verdammte Gewitter geblieben? Hat sich einfach verpisst! Ich so beinahe Herzkasper am Berg, und dieses Gewitter macht sich einfach stillschweigend vom Acker! Egal, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Und! Es! Ist! Geschafft! Yeah, geschafft! Erst mal‘n Bier jetzt. Oder zwei.

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