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Hüttenwochenende in Niederösterreich

Über den "Rauhen Kamm"

Es müssen ja keineswegs immer die extremen Unternehmungen sein. Manchmal genügt es auch einfach, sich übers Wochenende in eine abgelegene Hütte zu verkriechen und das wundervolle Spätsommerwetter zu genießen. Auch wenn du dafür nicht unbedingt gleich 360 Kilometer nach Niederösterreich fahren musst.

Reisen bildet. Gibt mir die Gelegenheit, endlich mal einen Text mit einer ausgewachsenen Plattitüde zu beginnen. Apropos platt: Ich war noch nie in Niederösterreich. Was auch ein klitzekleines bisschen zusammenhängt mit dem Namen des flächenmäßig größten Bundeslandes der schönen Alpenrepublik: Niederösterreich-Assoziationsketten liegen gedanklich einfach nicht so nahe wie oberösterreichische, sofern du dich selber als Bergmensch begreifst und genau deswegen vor sehr sehr langer Zeit aus Badisch Sibirien nach München ausgewandert bist. Geografisch liegt Oberösterreich übrigens auch sehr viel näher.


Wahrscheinlich hätte ich auch niemals etwas über Niederösterreich hinzugelernt, hätte es nicht dieses Hüttenwochenende gegeben. Es war ein Geburtstagsammelgeschenk, und so hatten Tina und ich ausreichend Anlass, etwas zu tun, was wir sonst wohl kaum in Erwägung gezogen hätten: 370 Kilometer von München nach Ostsüdost zu fahren - aber nicht bis nach Wien, sondern nur bis kurz davor. 


In eine Ortschaft namens Gaming, die für angloamerikanische Ohren ähnlich irritierend klingen muss wie das in Oberösterreich (!) liegende Fucking (das sich jetzt in Fugging umbenannt hat, weil die Einwohner die Ortsschild-Selfies von feixenden Besuchern aus aller Welt nicht mehr ertragen wollten. Unklar bleibt allerdings, wieso sie dann trotzdem bis zum europäischen Gerichtshof klagen mussten, um sich die Namensrechte für ihr lokales helles Bier zu sichern: Fucking Hell). Von Gaming, Niederösterreich, ist jedenfalls nicht überliefert, dass sich schon irgendein Super Mario am Ortsschild mit Joystick geselfied hätte.


Nahe Gaming also gibt es diese Berghütte, die man keineswegs spielend erreicht, sondern nur unter Absingen hässlicher Lieder unseres armen Caddy, gequält beim Uphill-Climb im ersten Gang, auf einer abenteuerlich steilen Schotterpiste durch den einsamen Wald, gewissermaßen die direkte Widerlegung aller Vorurteile über Niederösterreich. Jedenfalls kommt die Hütte nicht für Silvester-Events in Frage, außer du hast zufällig eine Pistenraupe im Abstellschuppen.

Ganz nach oben hat der Caddy es auch nicht gepackt, das wäre auch ganz ohne Eis und Schnee eher was für ein Allradfahrzeug gewesen. Aber wer braucht schon Allrad, außer natürlich, du wohnst mitten in München und musst die Kinder 500 Meter zur Schule fahren oder am Sonntag in Filzpuschen zum Bäcker. Das ist was anderes.


Jedenfalls hatten wir uns als niederösterreichische Eintages-Expedition die Überschreitung des Ötscher vorgenommen (der mit 1.893 Metern gar nicht der höchste Berg Niederösterreichs ist, nur der höchste im Bezirk Mostviertel, trotzdem der Paradegipfel der Ybbstaler Alpen, schon deswegen, weil es einen Ultra-Trailrunning-Wettbewerb über den Berg gibt, auf den sie sehr stolz sind). Die Ybbstaler Alpen kannte ich vorher auch nicht. Wos ois gibt! Note to self: Stadt, Land, Fluss - Fluss mit Y: Ybbs. Ob die Brücke wohl hält? Ybbs!


Bereits am Vorabend, als wir nach vier Stunden Anreise noch schnell einen kleinen Wie-Ihr-geht-so-spät-noch-los-Vierstünder durch die "Ötschergräben" einschoben, weil der Freitag der letzte echte Sommertag des Jahres sein würde (mit 26 Grad, Mitte Oktober, ähem), konnte ich darüber sinnieren, ob und welchen etymologischen Zusammenhang es wohl gibt zwischen "Ötztal" (Tirol), "Etschtal" (Alto Adige, Südtirol) und "Ötschergräben" (Niederösterreich). 


Googeln wäre jedenfalls problemlos vor Ort möglich gewesen: Niederösterreich ist mobilfunktechnisch deutlich besser erschlossen als weite Teile der deutschen Digitaldiaspora. Die um 400 v. Chr. in die Gegend eingewanderten Kelten gaben dem Berg jedenfalls den Namen ocàn („Vaterberg“), woraus unter späterem slawischem Einfluss der Name Ötscher (slaw. *otьčanъ ‘Gevatter’) entstand. Zur möglichen Ötz-Etsch-Ötscher-Etymologie hab ich aber auf die Schnelle nichts gefunden. Vielleicht weiß ja von Euch Sprachwissenschaftlern wer mehr dazu. Zwischn zwa Zwetschgnlikör zwitschan ma Ötz-Etsch-Ötscher...


Die Überschreitung am nächsten Tag war jedenfalls eine nice Tour mit aufkommenden Windböen und gegen Mittag stark zunehmender Bevölkerung. Note to self: Niemals eine Tour über einen Berg wählen, auf den eine Bahn hochgeht! Ich wiederhole: niemals. Eigentlich weiß ich das. Uneigentlich waren wir aber weit weg in Niederösterreich, und der Ötscher der einzige... ach, nix. 

Immerhin hatten wir für den Aufstieg die Nordflanke mit dem "rauhen Kamm" gewählt, eine semialpine Gratwanderung mit vereinzelten Stellen leichter Kletterei (atemberaubende I+ UIAA, Trad Climbing voll am Limit, hihihi), dafür mit umso brüchigerem Schrofengelände außenrum, bei Nässe und Verhauern zweifellos ein Umfeld, bei dem du dich auf besonders dämliche Art aus dem Kreis der Lebenden verabschieden kannst. Spitzkehren sind allesamt derart ausgelatscht von stumpfen Trotzdemgeradeausgehern, dass Verhauer exakt aussehen wie der Weg. Wegfindung by Overtourism - da ist auch bei allen fünf Metern aufgepinselten Wegmarkierungen Aufmerksamkeit angesagt, zefix.


Im Abstieg auf der anderen Seite widerstanden wir dann der Versuchung, mit der Seilbahn runterzufahren. 13 Euro pro Person für fünf Minuten Downhill. Haben wir uns verkniffen und lieber talwärts über eine Skipiste die Knie ruiniert. Ja no jung und frisch sammer mir, autschfallerei. 

Am nächsten Tag dann nach Temperatursturz um 20 Grad und Regen ein kurzer Abstecher nach Lunz am See. Schon wieder so eine Ortschaft, deren Namen ich noch nie zuvor gehört habe. Lunzer Torte? Ne, Moment. Seit 1905 gibt es am Lunzer See mit dem "WasserCluster Lunz (WCL)" ein international anerkanntes interuniversitäres Zentrum zur Erforschung aquatischer Ökosysteme, und im Ortskern gleich neben der Kirche mit dem "Haus der Wildnis" ein architektonisch wie multimedial herausragendes Infozentrum, das ausführlich auf die Besonderheiten des einzigen echten europäischen Urwalds eingeht, der ganz in der Nähe liegt und vor allem deswegen existiert, weil sich hero dazumal zwei stinkreiche Abteien nicht über die Aufteilung und Bewirtschaftung ihres Grunds einigen konnten, so dass das schwer zugängliche Waldgebiet heute schon so lange brachliegt, dass es nun offiziell als einziger europäischer Urwald nennenswerter Größe gilt und außerdem zum UNESCO Naturerbe erklärt wurde <lufthol>. Man darf allerdings nicht hinein. Wollten wir aber auch gar nicht. Sondern lieber heim, in den Stau am Irschenberg und zu unseren beiden Jungs, die vom Gaming mit ihren Schulfreunden sicher schon viereckige Augen hatten. 



Niederösterreich. Steiler als gedacht.


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