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Winterbegehung der Rubihorn-Nordwand

Carpe Diem

Einen besseren Namen als „Carpe Diem“ hätte die Route ja gar nicht haben können, die Sebi Brutscher und ich Anfang Januar 2020 durch die Rubihorn-Nordwand (1.957 m) geklettert sind: Top-Kletterbedingungen von Chamonix bis ins Allgäu (aufs Eis kommen wir gleich nochmal zu sprechen), gutes Wetter dazu.

Selber Schuld, wer sich da nicht spontan alle Termine aus dem Kalender räumt, frei nimmt und den Tag mit beiden Händen an den Eisgeräten ergreift. Die Route trägt den Spitznamen "Eiger Nordwand Light" und deswegen gehst du sie auch im Winter. Einfach mal so, um ein Gefühl zu kriegen, was Eiger-Nordwand theoretisch bedeutet.


Wenn du Bergabenteuer in den atemlosen Alltag des 21. Jahrhunderts packen willst und neben dem Job auch noch Familie hast, darfst du nicht lange fackeln: Sind die Bedingungen gut, musst du los. Sie waren gut. Ich also am Vorabend das Geraffel in die Kiste gepackt, die Steigeisen nachgefeilt und heute Morgen zu äußerst unchristlicher Zeit aus München raus Richtung Oberstdorf, bisschen mehr als 160 Kilometer. Und dann ging’s los, eher entspannt kurz nach acht vom Parkplatz der Gaisalpe bei Reichenbach. Eine Stunde zackiger Zustieg über den Tiefschnee des Schuttkegels vor der Wand, und schon stehen wir dampfend wie die Schlachtrösser am Wandeinstieg und wechseln erst mal das Shirt. Aufwärmen erfolgreich abgeschlossen! Die „Carpe Diem“ verläuft ein bisschen links von der klassischen Nordwandroute, und da ist kein Mensch drin, so weit wir sehen. Yihaa!


„Carpe Diem“ ist eine Mixed-Route bis zum oberen fünften alpinen Schwierigkeitsgrad - nein, nicht rekordverdächtig und nix zum groß Angeben – aber ohne Frage eine ernsthafte alpine Unternehmung, zumal als Winterbegehung. Nicht umsonst trägt die Rubihorn-Nordwand ihren Spitznamen „Eiger Nordwand Light“, und tatsächlich erinnern Silhouette und Charakter der zahlreichen Routen durch die Nordwand an den Klassiker aus Grindelwald, mit dem klitzekleinen Unterschied allerdings, dass das Gipfelkreuz des Rubihorn bereits auf 1.948 Metern steht, während der Eiger und die dazugehörige Nordwand mit 3.970 Metern mal locker doppelt so hoch in jenen Himmel ragt, aus dem Alpinistenträume sind (oder Alpträume, speziell beim Eiger).


Macht aber nix, das Rubihorn ist überaus beliebt fürs Nordwandtraining, und genau deswegen bin ich ja auch hier. Das ist meine erste Tour in diesem Jahr, von Topform zu sprechen, wäre maßlose Eitelkeit: Beim Zustieg fühle ich mich anfangs wie Mandy aus Marzahn, was auch daran gelegen haben mag, dass ich in der Früh den Kaffee unter der Maschine stehengelassen habe. Geht halt gar nicht (Zitat Wolfgang Güllich: „Man geht nicht zu Kaffee trinken, Kaffee ist integraler Bestandteil des Kletterns“. Ich seh‘ das ganz genauso).


Der Sebi jedenfalls ist über jeden Zweifel erhaben, der war gestern schon mal eben zum Spaß solo oben, ziemlich sicher dreimal schneller als heute mit mir (was er fair verschweigt) und geht die Route auch mit verbundenen Augen und nur einem Eisgerät. Aber von vorn.


Erst mal liegt unfassbar wenig Eis und Schnee in der Wand. Das sei typisch, sagt Sebi. Es wird also eher ein Mix aus Wühlen im Powder bzw. Harsch auf den Querbändern und Drytooling. Echtes Wassereis ist gar nicht am Start. Jetzt verstehe ich auch, warum Sebi am Vorabend meinte, die Eisschrauben könne ich daheim lassen. Zumal die Route in jeder der acht Seillängen solide Standplätze an Bohrhaken bietet. Wir kommen mit zwei magersüchtigen Expressen aus und legen selber genau nichts. Was natürlich auch wieder an Sebi liegt. Der Normalbergsteiger wird mindestens in den Schlüssellängen 2 und 8 ein paar Friends zusätzlich unterbringen, für Sebi ist das hier aber sowas wie die tägliche Joggingstrecke, braucht er nicht. Außerdem gibt es neben den Standplätzen reichlich Punkte für Zwischensicherungen in der Route, das ist also noch nicht mal leichtsinnig.


Statt Eis gibt es zwischen den Felsen jede Menge Grassoden, die auf 1.900 Metern in einer Nordwand natürlich anständig hartgefroren sind. Die fürs Allgäu so typischen Grassoden, die im Sommer extrem tückisch sind, ganz gleich, ob als rutschgefährliches Schrofengelände oder aus dem Fels ausreißende Büschel, eignen sich im Winter ganz vorzüglich zum Klettern an den Eisgeräten - eine witzige Besonderheit, die durchaus Spaß macht und der Wand ihren ganz eigenen Charakter verleiht (und natürlich genau gar nichts mit Eiger zu tun hat - und auch nichts mit echtem Eisklettern).


Um 12 Uhr stehen wir nach dem Wandausstieg (von wo man auch wieder abseilen kann) und anstrengendem Gewühle durch das recht steile Gipfelschneefeld am Gipfelkreuz. Die Sonne strahlt, und es öffnet sich ein grandioses Panorama: Rechts unter uns liegt Oberstdorf, ringsum die Allgäuer Alpen, wundervollstes Licht, hinten am Horizont mindestens zehn Heißluftballone - die Matrix meint es heute auf geradezu kitschige Weise gut mit uns. "Carpe Diem" wird eben belohnt. Brotzeit, erst mal. Und Fotos. Durch die Wand selbst haben wir knappe drei Stunden gebraucht für die acht Seillängen, in schönstem Plaisir-Tempo. Weitere drei Stunden später sind wir zurück am Parkplatz. Hollereiduliöh! (what something means like „Hell Yeah!“).

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