Wir werden zu Insekten
Produktivitäts- und Erlössprünge durch künstliche Intelligenzen werden absehbar derart enorm ausfallen, dass ganze Gesellschaften deutlich an Wohlstand, Zeit und Muße gewinnen könnten. Für mehr soziales und politisches Engagement, für Miteinander, für Kultur, für Kunst, für das Menschsein. Nur: Das wird nicht passieren. Viel wahrscheinlicher ist ein ganz anderes Szenario.
Eine Auseinandersetzung.

Die Ameise ist das höchste Ideal der kybernetischen Denkweise des Silicon Valley: Schleppt ein Vielfaches ihres Körpergewichts, stellt nichts infrage, lässt sich leicht steuern und hat keine anderen Lebensinhalte als für die Ziele der Königin zu malochen.
Technologie verändert Gesellschaften nicht. Sie verstärkt lediglich die Werte des Systems, in das sie eingeführt wird
Was ist der eigentliche Wertekern unserer Gesellschaft? Der real gelebte Zeitgeist, nicht jener edel formulierte Ethikkern, der sich z.B. in der Verfassung findet. Könnte es sein, dass rein ökonomische Steigerungs- und Verwertungslogiken alle anderen noch vorhandenen Werte schon längst verdrängt und überschrieben haben?
Falls das stimmt (und es spricht einiges dafür), wird neue Technologie nicht zu mehr Zeitwohlstand für den Einzelnen führen, zu weniger Arbeit oder zu Muße. Sondern zu noch mehr Arbeit: Produktivitätsgewinne werden stets sofort in Geld gewandelt, nie in Zeitwohlstand. Dämmert uns diese Erkenntnis nicht schon länger? Hat uns die ganze Vernetzung und Digitalisierung nicht nur nicht das schon häufig prophezeite "Ende der Arbeit" beschert - sondern ihr genaues Gegenteil?
Wieso haben uns die ganzen Technologiesprünge nicht längst das Paradies auf Erden beschert, sondern diese Burnout-Alltagshöllen des 21st Century?
Der Imperativ des "immer mehr" als endlose Steigerungslogik ist es, der die Gesellschaft in ihrem Kern antreibt, nicht etwa schöne Ideen humanistischer Prägung á la "Lebenszeit ist kostbar weil endlich, lasst sie uns so menschengerecht wie möglich gestalten". Die innere Logik des "immer mehr" interpretiert "Wert" nicht, indem sie fragt "Was ist ein gutes Leben?", sondern: "Wow, die erste Million! Schon Ideen für die zweite?" Steigerung ist dabei der einzige Selbstzweck, ein anderer wird überhaupt nicht diskutiert.
Es wäre ja durchaus tolerierbar, würden rein wirtschaftliche Interessen allen zugute kommen (mehr oder weniger zumindest; genau dieser Ansatz war ja der über einige Jahrzehnte funktionierende Pakt der sozialen Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik). Spätestens seit dem Siegeszug des Plattformkapitalismus ist jedoch klar: In der neuen Welt dienen ökonomische Interessen nur sehr wenigen, die überproportional profitieren, auf Kosten aller anderen. Dazu passt der Zeitgeist, die Theorie des Nullsummenspiels (wo einer gewinnt, muss irgendwer verlieren - die Summe bleibt dabei Null). Dieser Denkansatz befeuert egoistische Alleingänge und erschwert bzw. zerstört Kooperationsbereitschaft - zwischen Unternehmen genauso wie zwischen Staaten und Gesellschaften. In der Logik des Nullsummenspiels übersetzt neue Technologie jeden Fortschritt in möglichst viel Profit für Wenige, auf Kosten aller anderen - und nicht, um Freiräume für alle zu schaffen.
Beispiele aus der Praxis?
Schon heute mangelt es Ärzten keineswegs an Technologie, sondern an Zeit. Die Gesundheitssysteme stellen Effizienz und Kostensenkungen über die "Zeit mit Patienten“. Das führt zu einer im Wortsinn unmenschlichen Entwicklung in Kliniken, in der Pflege, in Artzpraxen. Als Gesellschaft nehmen wir dies zwar kopfschüttelnd zur Kenntnis, sehen uns aber offenkundig außerstande, etwas daran zu ändern. Ärzte verkaufen entnervt und desillusioniert ihre Praxen an Investmentfirmen, weil sie keine Lust mehr haben auf die explosionsartig angewachsenen Verwaltungs- und Dokumentationspflichten und den Ökonomisierungsdruck. Dabei haben sie sich für die Medizin entschieden, weil sie Menschen helfen wollten, Patienten behandeln, heilen.
An Hochschulen ist das Studium zu einer Druckbetankung nach eng vorgeschriebenen Plänen verkommen. Es geht darum, Zeit zu sparen, um der Ökonomie möglichst rasch frische Kopfarbeiterinnen zuzuführen. Zeit zum freien Nachdenken existiert allenfalls noch auf dem Papier, sie ist nicht mehr Teil des gelebten Konzepts.
Auch für Kinderbetreuung ist immer zu wenig Zeit, Mami und Papi müssen ja arbeiten. Eine Entscheidung für Elternzeit oder gar dauerhafte Teilzeit führt mit Ansage zum Karriereknick - die Steigerungslogik akzeptiert nicht, dass Zeit in anderes investiert werden soll als die Maximierung des Outputs. Es greift eine besonders subtile Mechanik: Für ein prinzipiell systemisches Problem wird nach individuellen Lösungen gesucht. Wenn die Eltern die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie nicht hinbekommen, ist das ihre Schuld, "Eigenverantwortung" bitte sehr, du hast eben dein Zeitmanagement nicht richtig im Griff, mach mal ein Coaching oder eine Therapie! Gewinne werden auch in dieser Logik privatisiert, die Verluste (an Zeitwohlstand) sozialisiert. Die Diskussion über das systemische Problem findet dabei überhaupt nicht statt.
Manch ein Handwerker liebt sein Handwerk, leidet aber sehr unter den Rahmenbedingungen, unter dem es nach den Spielregeln der Effizienzspirale ausgeübt werden soll.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
I am Big Tech and I have fooled you into believing that my freedom is your freedom
Nun kommt also die nächste Steigerungsstufe, die künstliche Intelligenz. Sie ist ein äußerst mächtiger Verstärker für jede Steigerungslogik: Durch KI steht die Menschheit zwar ziemlich sicher vor einem beispiellosen Produktivitätssprung. Er wird aber aus den beschriebenen Gründen nicht zu mehr Muße führen oder zum "Ende der Arbeit". Sondern abermals zu mehr Arbeit - die dann nur noch mit Hilfe von KI erledigt werden kann, weil Menschen allein es nicht mehr schaffen.
KI wirkt auf Gesellschaften wie eine Code Injection, sie verstärkt bereits vorhandene Steigerungslogiken nicht nur durch ihre Wirkung auf die Produktivität, sondern auch, indem sie die DNA des Silicon Valley auf Gesellschaften weltweit überträgt:
Die innere Systemlogik des Silicon Valley besteht aus jener kybernetischen Denkweise, die emotionale, ethische und soziale Aspekte bewusst ignoriert, zugunsten einer möglichst raschen und im Zweifel auch zerstörerischen ("disruptiven") Systemoptimierung nach rein ökonomischen Gesichtspunkten.
Viren funktionieren exakt nach dem gleichen Prinzip: Sie injizieren ihr Erbgut in die attackierten Zellen und zwingen sie so zur Reproduktion der eigenen Viren-DNA. Meist gehen die Zellen daran zugrunde. In der kybernetischen Logik kommt der Mensch nicht mehr als Individuum mit freiem Willen vor, sondern nur noch als berechen- und steuerbare Einheit, als Entität, die kybernetischen Regelsätzen folgt, Algorithmen. Für diese Mechanismen gibt es sogar ein geflügeltes Wort "invasive Technologien". Das Smartphone mit seinen subtilen Angriffen auf unsere Aufmerksamkeit gehört ebenfalls dazu.
Biologische Zellen haben - ebenso wie Gesellschaften - einem solchen "Hackerangriff" nur wenig entgegen zu setzen: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse sind kompliziert, langsam und träge, Rechtssysteme (die man als Immunsysteme von Gesellschaften betrachten könnte) reagieren viel zu schwerfällig und erweisen sich bei der Geschwindigkeit des "Überfalls" als untauglich.
Das höchste Ideal der kybernetischen Denkweise ist die Ameise: Unermüdlich schleppt sie ein Vielfaches ihres Körpergewichts, stellt nichts infrage und hat keine anderen Lebensinhalte, als für die Ziele der Königin zu arbeiten. Ob sie dabei Freude empfindet oder Leid, spielt überhaupt keine Rolle. Ameisenkolonien organisieren sich über
Pheromone, chemische Botenstoffe mit unterschiedlichen Codierungen.
Die Pheromone für die Ameisen des 21. Jahrhunderts sind Algorithmen.
Dark Patterns.
Übrigens geht es in dieser Betrachtung keineswegs darum, für oder gegen KI zu sein. Oder ganz generell für oder gegen Technologie. Der langfristige Nutzen von Technologie steht für mich völlig außer Frage. Ich bin ein Technikbegeisterter, schätze und nutze all die Errungenschaften, die Technologie der Menschheit bereits beschert hat. Vielleicht gibt es in naher Zukunft sogar Medikamente zur Heilung von Krebs - möglich geworden erst mit Hilfe von KI.
Es geht auch nicht um Systemkritik: Wir haben das bestmögliche System, davon bin ich ebenso überzeugt. Aber es muss an seinen offenkundigen Mängeln arbeiten, sein "Immunsystem" stärken. Mir geht es darum, auf den falsch kalibrierten Wertekern hinzuweisen, jener Steigerungslogik als Selbstzweck, die durch neue Technologien weiter verstärkt wird. Es geht um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir wirklich wirklich leben wollen. Wir wir als Gesellschaft ein wirksames "Immunsystem" hinbekommen gegen die überfallartigen Mechanismen von Big Tech. Diese Frage stellen wir aber nicht ausreichend: Für systemische Probleme wird weiter nach individuellen Lösungen gesucht.
Wir lassen uns von ökonomischen Imperativen treiben, die nur wenigen nützen
Statt dessen lassen wir uns fast vollständig von ökonomischen Imperativen in eine ungenügend reflektierte Beschleunigungsspirale treiben, die entstanden ist, weil sich die astronomischen Tech-Wetten einiger Weniger möglichst schnell refinanzieren müssen - und weil es ein Wettrennen gibt um Machtpositionen in der Welt. In beiden Szenarios spielt der Mensch mit seinen menschlichen Bedürfnissen keine Rolle. Nur als funktionierende Entität. Als Insekt.
Die "Ameisenkönigin" braucht: Arbeiter und Soldaten. In einem Ameisenstaat wird der Gedanke von Demokratie und Freiheitlichkeit lächerlich. Ameisenstaaten funktionieren streng hierarchisch, absolutistisch. Sie besetzen Territorium, führen systematische Eroberungskriege. Ist es das, was gerade geschieht? Wollen wir das tatsächlich? Wer kann das ernsthaft wollen?
Lösungsvorschläge?
Die schwierigste Übung für "Alles, und das sofort"-Anspruchshaltungen in Wohlstandsgesellschaften besteht darin, dass es in kulturellen Entwicklungsprozessen weder einfache noch schnelle Antworten gibt. Kultureller Wandel ist ein langwieriger und mühsamer Prozess. Weder lässt er sich abkürzen noch zurückdrehen. Wer das behauptet, ist ein Populist und Scharlatan (und wird leider genau deswegen gewählt). Wir brauchen Geduld - genau darin besteht ja die ungerechte Asymmetrie und Gefahr bei einer Entwicklung, die einer Virusinfektion verblüffend ähnlich ist. Kann gut sein, dass der Organismus ernsthaften Schaden nimmt, bevor das Immunsystem wieder die Oberhand gewinnt.
Es steht zu befürchten, dass der Homo Sapiens noch das eine oder andere Mal falsch abbiegt, wie eigentlich immer in seiner Historie, bevor er irgendwann vielleicht doch den richtigen Weg findet. Amerikaner machen immer alles richtig, nicht ohne zuvor alle anderen Möglichkeiten ausprobiert zu haben (das Zitat ist von Winston Churchill). Deutsche sind Weltmeister im Erklären, warum etwas nicht funktionieren wird. Ich bin Deutscher - aber bei aller Skepsis trotzdem nicht ohne Hoffnung.
Drücken wir uns die Daumen, dass die Fehler, die uns beim unkontrollierten Experimentieren mit KI unterlaufen können, nicht zu folgenreich werden. Dass Murphy ein Einsehen hat, nur dieses eine Mal. Hoffen wir, dass es der Menschheit einmal mehr gelingt, sich irgendwie vorwärts zu scheitern, um irgendwann tatsächlich im 21. Jahrhundert anzukommen - und dann absehbar eine andere Spezies geworden zu sein.
Zum Insekt zu werden, kommt für mich jedenfalls nicht in Frage.
Ich geh jetzt Rad fahren. Hilft immer, um den Kopf frei zu bekommen.