Schatzsuche mit Fuchs

© 2025 Hartmut Ulrich. Rohbernstein-Fundstücke von der dänischen Nordseeinsel Fanø: Einige hundert Gramm waren die Beute einer Woche
© 2025 Hartmut Ulrich. Diese Kostbarkeiten enthalten beinahe alle Einschlüsse, sog. Inklusen. Insekten, Spinnen, ein Blatt. Alter: 20-40 Millionen Jahre.
Es ist vollkommen unmöglich, nach Fanø zu fahren und NICHT dem Bernsteinfieber zu verfallen. Weil die Insel ein Top-Spot ist und ALLE, Touristen wie Einheimische, grundsätzlich mit gesenktem Kopf am Strand entlang laufen (oder eben bei Ebbe durchs Watt), in der Hoffnung, einen dieser wundervollen honigfarbenen Harzbrocken zu entdecken, die so zwischen 20 und 40 Millionen Jahre alt sind - so alt, dass man es sich gar nicht mehr vorstellen kann, die Kontinente sahen noch ganz anders aus, die Dinosaurier waren aber trotzdem schon längst ausgestorben (das ist bereits 60 Mio. Jahre her). Und mit viel Glück ist dann eine Spinne im Stein oder ein Käfer, und dann sind sie besonders wertvoll.
Die meisten Leute spazieren bei Tag am "Spülsaum" entlang, das ist der Streifen Tang, Holz und Dreck, den die Flut am Strand hinterlässt. Um da was bei Tag zu finden, muss man schon wirklich Glück haben. Und ganz schön im Dreck wühlen. Wer es richtig angehen will, sucht bei Dunkelheit, mit einer UV-Lampe. Bernstein reflektiert die UV-Strahlung dieser speziellen Taschenlampen und leuchtet grellgelb zurück. Das ist so genial und so eindeutig, dass man es nie wieder anders versuchen wird, wenn man einmal gesehen hat, wie viel Krümel tatsächlich im Meer liegen.
Die Suche bei Dunkelheit mit UV-Licht hat noch einen anderen Vorteil: Es gab schon schwere Unfälle mit weißem Phospor aus dem Zweiten Weltkrieg, der aussehen kann wie Bernstein. Phospor brennt unter Wasser nicht, entzündet sich bei Körpertemperatur aber von selbst, brennt dann mit 1.300 Grad und lässt sich mit Wasser nicht mehr löschen. Die Verbrennungen sind furchtbar. Weißer Phosphor reflektiert das UV-Licht nicht.
Um bei Nacht ins Watt rauszugehen, sollte man allerdings solide ohne Sicht orientieren können (am besten mit GPS, Seenebel zieht schnell auf und kann ziemlich tückisch sein, und es reicht ja eigentlich schon, das Auto am Strand nicht wiederzufinden), genau über den Tidenhub Bescheid wissen, eine Ahnung vom Wetter haben (ideal für Bernstein ist vorangegangener Sturm aber bei Sturm im Watt ist jetzt auch kein Spaß) und einen Blick für typische Ablagerungsstellen von Bernstein entwickeln. Orientieren im Watt ist aber viel einfacher als Orientieren am Berg, und die Gezeiten heißen so, weil sie so schön berechenbar sind - also beides eigentlich harmlos. Ein irres Gefühl ist es in jedem Fall, bei Nacht im Watt, eine echte Parallelwelt. Dazu fährt man ja hinaus in die Welt, um die gewohnten Zonen mal zu verlassen.
Das erinnert mich an einen Nachttauchgang am Great Barrier Reef bei Cape Tribulation vor Australien. Damals, vor 15 Jahren, war das Riff schon schwer angeschlagen, weil das Wasser schon damals zu warm wurde - aber im Gegensatz zu heute noch halbwegs ok. Bereits beim Abtauchen war mir die geliehene Schrottlampe voll Wasser gelaufen und sofort ausgegangen. Meine Gruppe hatte das nicht mitbekommen (konnten mich ja nicht sehen), und ich musste mich entscheiden, ob ich allein ohne Licht auftauchen wollte (und dann vielleicht das Boot verpasst hätte und keiner hätte mich sehen können) oder ohne Licht den Tauchgang fortsetzen und an der Gruppe dranbleiben wollte. Ich bin dann 45 Minuten schwerelos und bei völliger Dunkelheit in 15 bis 18 Metern Tiefe im Pazifik geschwebt und habe plötzlich Details wahrgenommen, die mit Lampe niemals zu sehen gewesen wären. Es war einer der schönsten Tauchgänge überhaupt...
Im UV-Licht der Suchlampe taucht plötzlich ein Fuchs auf - bei Nacht, mitten im Watt
Als ich also gegen 22:00 Uhr mit meiner Lampe im Watt vor mich hingummistiefele, höre ich hinter mir ein leises Tapsen im Matsch. Konnte das sein? Welches Tier schleicht denn Nachts im Watt rum? Nun, nicht einmal Füchse können so leise gehen, dass sie im Watt nicht ein ganz kleines bisschen mit den Pfoten patschen. Ich dreh mich also um und sehe im violetten Schein meiner UV-Lampe ein kleines schmächtiges Füchslein, das mir in respektvollem Abstand folgt. Offenbar hält es mich für sowas wie einen Jäger, der sich was im Watt holen geht, und wo Jäger sind, fällt vielleicht auch was für hungrige Füchslein ab. Dass es der zweibeinige Jäger auf honigfarbene Steinchen aus dem Paläogen abgesehen hat, konnte der Fuchs ja nicht ahnen.
Einmal entdeckt, gab der Fuchs sein Schleichen auf und hat mich ganz offen umkreist, immer so ein paar Meter Abstand. Wir sind dann noch einträchtig rund eine halbe Stunde durchs Watt geschlichen, während sich der Mond blutrot im Osten über die Dünen erhob. Mit dem Mond war es dann deutlich heller. Irgendwann hat sich das Füchslein getrollt. Wahrscheinlich war es sehr enttäuscht über diesen komischen Jäger. So bekloppt, bei Nacht im Watt etwas anderes zu suchen als Fressen, können auch nur Menschen sein.
Bernstein findest du natürlich auch im Sommer
Es habe keinen Sinn, im Sommer nach Bernstein zu suchen, habe ich gelesen. Das Wasser ist dann zu warm, und weil Bernstein beinahe die gleiche Dichte hat wie Wasser bei vier Grad Celsius, wird er vor allem in den Wintermonaten bei starkem Wind und Wellen vom Grund hochgespült und verfängt sich dann an den Spülsäumen der Fluten zwischen Tang und Holzresten. Im Sommer nicht. Im Sommer ist das Wasser zu warm, ergo weniger dicht als im Winter und die schönen dicken Brocken bleiben am Grund. Wer große Stücke finden will, muss im Winter kommen, die richtigen Stellen kennen - und immer noch Glück haben. Steht im Internet. Aber zum Glück hat das Internet auch nicht immer Recht. Man kann auch im Sommer einfach so auf Bernsteinsuche gehen, der frischen Luft wegen, und um dieses Gefühl zu genießen. Es ist wie Pilze sammeln, eine Mischung aus Jäger, Sammler und "Schatzinsel" in einem. "Microadventure" nennen sie das im Marketingsprech, in jedem Fall ist es archaisch und großartig, ganz gleich, ob man was findet oder nicht.
Natürlich ist das schon richtig mit der Wassertemperatur und der Dichte. Ich erwarte also keine Schatzfunde, sondern allenfalls ein paar anständige Krümel. Letztes Mal vor zwei Jahren habe ich ein Stück mit einer Fliege drin gefunden, eins von tausend enthält solche "Inklusen", und die sind dann besonders wertvoll. Der Schleifer in Sønderho wollte es aber nicht polieren, weil er sonst die Hälfte der Fliege wegpoliert hätte. Das Insekt im Harztropfen ist zwischen 20 und 40 Millionen Jahre alt, und man erkennt noch genau seine Flügelstrukturen im fossilen Baumharz. Ich finde es unglaublich, dass der Bernstein über diesen ebenso unfassbaren Zeitraum seine Struktur, Farbe und Transparenz behalten hat, und dass man ihn nun einfach so am Strand auflesen kann.
Beim Bernsteinschleifer in Sonderhø gibt es natürlich viel schönere Stücke zu kaufen als ich sie jemals selbst finden werde. Aber das wäre gegen die Ehre.
Der Schleifer ist gleich neben dem Haus mit dem lustigen dänischen Schild "Glaspusteri", das man nicht übersetzen muss, sich aber sehr über das drollige Wort freut, sofern man Wörter mag. Ich mag Wörter. Und Bernstein.
Wenn man den Laden des Schleifers betritt, dann riecht es gleich unverwechselbar nach Bernstein (der Schleifstaub macht das, er liegt in der Luft). Aber man kauft keinen Bernstein im Laden, das ist gegen die Ehre. Etwa so, als würde man einen Hecht beim Großmarkt kaufen, um damit bei einem Angelwettbewerb anzutreten. Oder mit dem Moped auf Strava einen KOM zu holen (Radsport-Insider). So oder so: Das ist was für arme Würstchen. Gekauft ist Bernstein einfach nur goldgelb und honigfarben, hübsch anzusehen und nicht ganz billig. Aber gekauft erzählt er keine Geschichte. Nicht deine Geschichte. Wie du am Abend gegen acht nochmal den Wetterbericht checkst und umrechnest, wie viel 35 Knoten in Stundenkilometern sind: 64,82 km/h - Windstärke 8 oder "stürmischer Wind". Hmhm. Soll ich wirklich raus ins Watt bei dem Sturm und bei Dunkelheit?
Den Wind hatte es zwar den ganzen Tag auch schon, aber bei Sonne wirkt so ein Lüftchen weitaus weniger bedrohlich als bei Nacht im Watt. Nicht mal die Strandsegler waren heute draußen, denen war es auch zu stürmisch. Und dann die Regenwahrscheinlichkeit dazu: Ich werde mit größter Wahrscheinlichkeit nass werden. Richtig nass. Mal sehen, was die Ausrüstung kann. Ebbe ist heute um 00:17 Uhr, das Wasser zieht sich also noch weiter zurück, wenn ich gegen 22 Uhr meine Lampe einschalte, das ist ok. Jetzt nicht lange rumeiern hier, los jetzt! Wir haben zu Abend gegessen, Papi verschwindet im Dunkel (echte Abenteuer brauchen immer ein bisschen Restrisiko, sonst sind es ja keine, nicht mal klitzekleine Microadventures).
Am besten sucht es sich Bernstein bei Nacht. Mit UV-Licht
Natürlich findet man auch tagsüber Bernstein. Das ist aber nicht nur ziemlich unwahrscheinlich, das ist was für Anfänger. Man sieht die Brocken tagsüber im Spülgut einfach kaum, zwischen Holz, Muscheln, Kohleresten, Tang und anderen Dingen, die das Meer so an Land wirft. Plastik, Müll, Schaum. Viel klüger ist es, mit einer UV-Lampe bei Dunkelheit zu suchen. UV-Licht hat zwei entscheidende Vorteile: Erstens reflektiert Bernstein das UV-Licht zuverlässig leuchtend gelb mit einem ziemlich unverwechselbaren Farbton. Das ist grandios, denn plötzlich wird sichtbar, wie unfassbar viel davon tatsächlich im Meer liegen muss - an den richtigen Stellen der Nord- und Ostsee (die muss man natürlich kennen). Und zweitens reflektiert Phospor kein UV-Licht: Es liegt immer noch ziemlich viel weißer Phosphor vom Krieg im Meer, aus Bomben und Kampfmitteln, Bernstein optisch zum Verwechseln ähnlich. Wenn der Phosphor trocknet, entzündet er sich von selbst und brennt dann mit etwa 1.300 Grad - ein Killer, so gut wie nicht zu löschen. Hat schon schlimme Unfälle gegeben mit Sammlern, die tagsüber so ein Stück für Bernstein gehalten und eingesteckt haben, das sich dann entzündete. Mit einer UV-Lampe bei Nacht ist die Verwechslung ausgeschlossen.
In den ersten Tagen auf der Insel waren wir mit den Jungs draußen, kein Wind, schönstes Wetter, 27 Grad, warmes Wasser: Für die Jungs auch schon ein Abenteuer - aber eben kaum was zu finden. Für Bernstein braucht es auf Fanø richtig mieses Wetter und Sturm aus Nordost. Auch im Sommer. Und da beginnt die Geschichte.

Bernstein suchst du am besten in der Nacht. Mit einer UV-Lampe wie dieser. Im UV-Licht leuchtet Bernstein grell gelb.
Ich ziehe eine Regenhose über die Gummstiefel und die Hardshelljacke mit Kapuze an. Mal sehen, ob das Zeugs auch bei Windstärke 8 dicht hält. Die Lampe ist frisch aufgeladen, los geht's. Von unserem Ferienhäuschen gleich hinter den Dünen ist es nicht weit bis zum Meer, morgens bin ich hier joggen. Mit dem Smartphone markiere ich meinen Startpunkt am Strand - auch wenn die Orientierung selbst bei Nacht kein Problem ist, komme ich doch gerne wieder exakt an der Stelle raus, wo ich losgelaufen bin. Und manchmal gibt es Nebel, unwahrscheinlich um diese Jahreszeit, aber sicher ist sicher. Bei Nebel im Watt kann doof enden - wenn man die Orientierung verliert, raus aufs Meer latscht statt landeinwärts und dann von der Flut den Weg abgeschnitten bekommt. Der Sturm ist da, der Regen noch nicht. Am Horizont über dem Wasser sehe ich den finsteren Wolkensaum gegen den klaren Teil des Nachthimmels - selbst bei Dunkelheit erkennt man die Unterschiede am Himmel.
Heute ist ein guter Tag, hm, Spätabend. Der Wind hat einiges in Bewegung gebracht, und ich fühle mich wie ein Pilzsammler, der eine geheime Stelle mit Steinpilzen entdeckt. Noch während ich mit Umherleuchten und Sammeln beschäftigt bin, kommt der Regen. Regen auf dem Meer ist anders als so ein entspannter Landregen in Isarnähe. Regen im Wattenmeer bei Windstärke 8 ist eine Naturgewalt. Erst fallen ein paar einzelne schwere Tropfen, und dann bricht es los über mich, ein sintflutartiger Schauer, der die Luft mit Gischt füllt und mich zwingt, mich mit dem Körper aus dem Wind zu drehen und das Gesicht auf die Leeseite zu nehmen, weil sonst die Brille innerhalb von Sekunden beidseitig nass und regenblind wird. Ich sehe gerade so gut wie nichts mehr, die Luft ist voller Wasser, der Wind peitscht eine neblige Gischt beinahe horizontal über das Watt, Wo eben noch der Wattboden war, peitscht nun eine geschlossene Wasserdecke windwärts. An Weitersammeln ist im Moment nicht zu denken.
Immerhin hält die Ausrüstung, was sie verspricht, ich bleibe trocken, bis auf die Hände und das Gesicht. Wer leicht in Panik gerät, lässt solche Aktionen trotzdem besser bleiben, das ist nichts für schwache Nerven, bei völliger Dunkelheit im Wattenmeer bei Ebbe. Doch schon nach ein paar Minuten lässt der Schauer nach - der Wind allerdings nicht. Ich entspanne mich und gehe langsam weiter, setzte meine Suche fort. Glück kann man nicht kaufen. Glück ist eine Prämie für Selbstüberwindung - nicht ausschließlich - aber sehr, sehr oft.