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Überschreitung Dent Blanche über Wandfluelücke

Alter, dieses Schrofen-Gelände!

Wie auch das Obergabelhorn steht die Dent Blanche (4.357 m) in unmittelbarer Nähe zum berühmtesten aller Alpengipfel, dem Matterhorn. Mit dem sehr langen Zustieg über Schönbielhütte und Wandflue und genau dem gleichen weiten Rückweg wurde die Überschreitung über den Wandfluegrat Ende Juli 2020 zu einem 18-Stunden-Monster, das ich so nicht unbedingt erwartet hätte.

Wie die Wahrnehmung sich verschiebt: Nach den vergangenen Tagen kommt mir der Mittellegi am Eiger vorletzte Woche vor wie ein Anfängerspaß. Das tut dem Mittellegigrat durchaus unrecht, denn auch er ist eine grandiose Tour, ist ausgesetzt, erfordert volle Konzentration und ist keineswegs eine Anfängertour. Aber er war bei idealen Bedingungen eben weitaus einfacher als das, was wir an der Dent Blanche (4.357 m) hinter uns haben (27. Juli 2020). Auf den Eiger stiegen wir ausgeruht und entspannt mit null Wind von der Mittellegi-Hütte in knapp drei Stunden bis zum Gipfel und in weiteren drei Stunden bis zum Mönchsjoch. Tres Plaisir, pretty easy. 


Mittellegi ist nicht die Eiger-Nordwand - und mit dem Ausstieg aus dem Südwand-Stollenloch der Jungfraubahn an der Station Eismeer ist der Hüttenzustieg am ersten Tag geradezu lächerlich kurz. Natürlich ist der Eiger ein Prestigegipfel, genauso wie das Matterhorn. Und der Mittellegigrat sucht seinesgleichen, was das spektakuläre Spiel von Licht und Wolken am Grat betrifft und den grandiosen Blick in die Runde von Mönch, Jungfrau und Trugberg bis hinüber zu Finsteraarhorn und Schreckhorn. Aber: Die 4.357 Meter hohe Dent Blanche ist ein bisschen höher als der Eiger. Der Weg ist viel viel weiter. Für uns deutlich mehr als doppelt so weit. Und die Tour über die Wandflue ist heikel, vor allem wenn man sie rauf und runter vor sich hat. Aber von vorn.


Erst mal startet kaum eine arme Seele diese Tour von der Schönbielhütte aus. Weil das nämlich eben verdammt weit ist. Alle, denen wir davon erzählten, haben erst mal die Augen verdreht. Wer halbwegs begabt ist im Kartegucken, meldet sich deshalb gleich in der Cabane de la Dent Blanche an. Die liegt auf 3.507 Metern quasi unmittelbar an der Wandfluelücke (3.700 Meter), von wo aus der Wandfluegrat über den erst mal flachen Gletscher und entspannte 850 Höhenmeter direkt auf den Dent Blanche-Gipfel führt. 


Mit dem Start an der Cabane de la Dent Blanche verkürzt sich im Vergleich zu unserer Planung die Distanz bis zum Gipfel um mehr als die Hälfte. Die Schönbielhütte hingegen liegt viel niedriger, auf 2.694 Metern, also 1.663 Höhen- (nicht Kletter!)meter statt 850 und mehr als der doppelte Weg. Wer sich's nicht mit voller Absicht geben will, absolviert also lieber am ersten Tag den längeren Zustieg zur Cabane de la Dent Blanche und hat dann am Gipfeltag etliche Stunden weniger auf der Uhr - und ein wesentlich größeres Sicherheitsfenster. Oder mehr Schlaf. Haben wir versucht. Doof: die Dent-Blanche war voll bis in die Besenkammer. No Chance. Es soll ja Seilschaften geben, die ohne geringste Gewissensbisse mit vier oder mehr Personen unangemeldet ins ohnehin schon volle Arbenbiwak drängeln und aus dem entspannten Miteinander dort ein beängstigendes Rudelkuscheln machen. Social Distance? Hahaha! Und die dann nicht mal den Höflichkeits-Obolus von 23 Franken für die Übernachtung zahlen - weiß ja keiner, dass sie da waren, wenn sie sich weder anmelden noch ins Buch eintragen.


Auf einer Hütte geht das nicht. Da hast Du einen Platz oder eben keinen. Ich wäre ja bereit gewesen, vor der Hütte zu biwakieren. Setzt aber voraus, dass alle einen Schlafsack mit haben (und eine Matratze) und nicht nur den superleichten Hüttenschlafsack aus Seide. Langer Rede kurzer Sinn: Start von der Schönbiel. Und zwar saufrüh. Und mit saufrüh meine ich: um zwei. Alter, um zwei aufstehen, ich bin zu alt für den Scheiß! Da bist du gerade mal richtig eingepennt, nachdem dir der eigene Puls die ersten zwei Stunden im Schlafsack ordentlich in den Ohren gewummert hat, weil du dir als vielbeschäftigter Minga Gschaftlhuaba inkl. Familie nur mit Mühe ein paar Hochtourentage aus dem Schulferienkalender geschnitzt hast und jetzt natürlich nur erst so mittelgeil akklimatisiert bist. 


Um zwei Uhr früh meldet sich dann so ziemlich alles in deinem Organismus, was richtig schlechte Laune macht: Schädel, Hormone, Magen, Kreislauf. Hunger hast du auch keinen - nicht weiter schlimm, das Frühstück auf der Schönbiel sieht eh nach "ich hab keinen Hunger" aus. Kann aber auch die Uhrzeit gewesen sein, ich bin da mal diplomatisch. Kalorien müssen trotzdem sein, Wasser auch, so viel wie möglich rein damit. Lieber später kunstvoll zwischen dem Klettergurt durchstrullern als dehydrieren! Start um 2:30, Stirnlampen an. Zur besseren Wegfindung hatten wir am Vorabend noch den Einstieg zur Wandflue erkundet, Betonung auf "ein bisschen": im wesentlichen, um festzustellen, dass auch die Erkundung des Wandfußes eine längere Tour wäre, weil der Weg weit um die erste Felsrippe und den Gletscher führte. Egal. Wir würden das schon finden, auch bei Dunkelheit. Gibt ja GPS und die gute alte Faltkarte.


Also im Licht der Stirnlampen an der brüchigen Seitenmoräne des Gletschers entlang und über die Ausläufer des Eisfelds bis zum Fuß der Wandflue. Julian hatte sich bereits im Vorfeld erkundigt: "Ziemliches Scheißgelände" lautete die erschöpfende Auskunft, und besser kann man es eigentlich auch nicht zusammenfassen: Extrem brüchiges und steiles Schrofengelände, weitgehend weglos, anfangs noch Steinmännchen, dann nix mehr. So gut wie kaum abzusichern, weder durch Köpfelschlingen noch durch Friends. So gut wie jeder Felsblock lose. Hey, Alpinismus!


Bei der Gelegenheit habe ich gelernt, dass es eben nicht genügt, nur mit der Faust an einen Block zu schlagen, um zu prüfen, ob er lose ist. Man muss auch die zweite Hand flach auf den Block dazu legen, während man darauf schlägt und spürt dann selbst die feinste Bewegung. Beachtlicher Lerneffekt durch blankes Entsetzen: Woran ich so gesichert hätte, wäre im Fall des Falles wohl mehrheitlich den Bach runter. Ich Profi! Übrigens mit ein Grund, warum ich bevorzugt mit Bergführern unterwegs bin: Bei jeder Tour lernst du was dazu. Immer. Und wenn du noch so erfahren bist. Während wir noch mit der Wegfindung durch die Wandflue beschäftigt waren, drehten sie sich auf der Cabane de la Dent Blanche gerade nochmal um in ihren Betten. Und würden trotzdem schneller am Grat sein als wir.


Um es abzukürzen: Kurz nach Tagesanbruch waren wir auch auf dem Grat. Am Grat ist der Fels ganz anders als im Bruchhaufen der Wandflue. Kompakt, griffig jetzt, die einfache aber ausgesetzte Kletterei purer Genuss. Wäre da nicht der Wind gewesen. Dieser Scheißwind! Auf 4.000 Metern ist so gut wie jeder Wind ein Scheißwind, und selbst mit vergleichsweise moderaten 35 Stundenkilometern (sagte MeteoSwiss, also immerhin Windstärke 5 bis 6) war unser Scheißwind ein verdammt arschkalter Scheißwind. Am liebsten willst du die Kapuze deiner Hardshell am Helm festtackern, und rundrum flattert einfach alles, wie auf einem Segelboot mitten im Atlantik. 


Sonnenbrand gibt's trotzdem, dann eben auf den Lippen, wenn alles andere schon unter der Kapuze steckt. Sonnenschutzstift 50, aufzutragen, während Julian gerade wieder eine Seillänge vorsteigt. Die ersten Seilschaften kamen uns bereits wieder vom Gipfel entgegen, wir noch immer im Aufstieg. "Wie weit noch?", fragten wir durchaus neidisch. "Rund eine Stunde". Wir haben dann statt einer doch nur noch eine halbe Stunde gebraucht bis zum Gipfel. Aber sieben Stunden waren trotzdem vergangen seit dem Start. Sieben Stunden und erst die Hälfte! Ohne langsam gewesen zu sein. Und das mit nicht mal zwei Litern Wasser im Rucksack. Immerhin wird das Ding jetzt immer leichter im Abstieg, die Riegel sind auch schon fast alle weg. Sieben Stunden!

Es blieb nicht übermäßig viel Zeit für Gipfelglück, nach kaum fünf Minuten für Fotos und einem Riegel machen wir uns direkt an den Abstieg. Runter haben wir dann ziemlich flott drei der Seilschaften eingeholt, die uns gerade noch von oben entgegengekommen waren. Aber einholen bringt ja genau nichts, wenn du nicht auch überholen und vorn bleiben kannst. Also warten. Nachkommen. Warten. Freundlich bleiben. Und den Pickel nicht liegen lassen. 


Der Abstieg über das heikle Schrofengelände der Wandflue hat mich dann aber den letzten Nerv gekostet: Runter fällt mir schwerer als rauf (wie fast allen). Mehr als 70 Prozent der Bergunfälle passieren beim Abstieg, wenn der Gipfeldruck raus ist und der Adrenalinpegel runter. Deshalb bin ich hoch meistens entspannt und bergab grundsätzlich doppelt angespannt. Keinerlei Lust zu enden wie Andreas Lindner, die 21-jährige Hoffnung des DAV-Expedkaders: Am 29. Juni rutschte er im Mont Blanc-Massiv beim Zustieg zur Dru-Westwand in genau so einem Schrofengelände aus und stürzte rund 100 Meter in die Tiefe. Aus die Maus. 


In steilem Schrofengelände bin ich echt langsam, ich gebe das ganz offen zu. Jürgen Schafroth, mit dem wir die "Schreck-Heel" an der Freispitze in den Lechtaler Alpen geklettert sind (VI+/VII- UIAA), meinte damals beim Abstieg über den Schrofenhang an der Freispitze "die ganzen jungen Kletterer aus der Halle kommen zwar beeindruckende Wände hoch. Aber manch einer kommt dann so einen Schutthang nicht mehr runter, weil er es nie geübt hat". Da hat er Recht. Ich bin zwar weder jung noch ein reiner Hallenkletterer, aber ich kann Schrofen auch nicht schnell und geübt absteigen.


Nach 18 Stunden erreichen wir schließlich die Schönbiel. 18 Stunden! Sicherlich hätte sich die Tour zwei, drei Stunden schneller machen lassen. Mir egal, lieber langsam als tot. Nächstes Mal reservieren wir ein halbes Jahr vorher auf der Cabane de la Dent Blanche, ich schwör! Und jetzt erst mal auf zum Arbenbiwak

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