Riedberg- und Hochtannbergpass
Radmarathon im Tannheimer Tal
Der Radmarathon im Tannheimer Tal ist mit seinen 220 Kilometern ist nichts für Anfänger - aber nach dem Ötztaler wahrscheinlich einer der schönsten Gran Fondos für Amateure überhaupt. Er führt über zwei Bergpässe, unter anderem über den Riedbergpass mit seinen bis zu 18% steilen Rampen, den höchsten mit dem Auto befahrbaren Bergpass in Deutschland. Ich bin ihn zweimal gefahren - 2019 bei wahrhaft abenteuerlichen Bedingungen und dann nochmal 2022 bei allerbestem Wetter - eine geschlagene Stunde schneller als beim ersten Versuch.
Dass wir nass werden würden, war von Anfang an klar. Selten waren die Wetterprognosen für einen Radmarathon derart entmutigend wie 2019 vor dem 11. Radmarathon im Tannheimer Tal. In Aussicht standen Gewitter und Starkregen sowie Sturmböen - vom frühen Morgen bis in den Nachmittag. Bei derartigen Aussichten fanden trotz eines neuen Anmelderekords von 2.370 Teilnehmern am Morgen des 7. Juli lediglich 880 Fahrer über die 220 Kilometer den Weg in die Startzone, 92 traten über 131 Kilometer an und 360 über 58 Kilometer. Während des Rennens steigen dann weitere rund 330 Teilneher aus, lediglich 551 Starter kamen 2019 über die volle Distanz von 220 Kilometern und rund 3.500 Höhenmetern. Ganz vorneweg als Sieger der Gesamtwertung Dominic Aigner aus Euskirchen mit einer Zeit von 6:16, die Kollegin Magdalena Weigl vom Team „RennRad“ nach 7:21 als schnellste Frau.
Ausgangslage: beschissen. Anyway: Aussteigen ist keine Option!
Bereits während des Rennbriefings am Vorabend immer wieder ungläubiges Lachen in der Tannheimer Sägerhalle: Mit Hitzeschäden auf der Strecke sei zu rechnen, mit bis zu drei Zentimeter tiefen Löchern, mit Rillen und Riefen – ausgerechnet bei den kurvenreichen und bis zu 18 Prozent steilen Abfahrten hinter Oberjoch. Einen Weideabtrieb gäbe es, bitte Vorsicht, glitschige Kuhfladen. Und ja, die Baustelle am Riedbergpass, eine rund 550 Meter lange Schotterpassage (neudeutsch "Gravel"), nur einspurig befahrbar und mit 16 Prozent Steigung. Und bitte: Die Verkehrsregeln seien sorgfältigst zu beachten, der Tannheimer sei eine RTF, eine Radtouristikfahrt, kein Rennen, die Straßen nicht gesperrt, Beleuchtungspflicht in den Tunnels und Galerien, Rechtsfahrgebot. Wer sich nicht an die Spielregeln hielte, riskiert die Disqualifikation - und, äh, sein Leben.
Dreimal fegen die Sturmböen mich fast vom Rad
Am Start um sechs Uhr gerade noch trocken, hinten an den Bergzügen aber schon deutlich sichtbar die tiefhängende Unwetterfront. Schöne Aussichten! Ich stehe mit Regenjacke und hoffentlich einigermaßen dichten Überziehern auf den Klickschuhen am Start, andere sind optimistischer, werden aber schon nach wenigen Kilometern patschnass am Rand stehen und die Regenjacken überstreifen. Die ersten Kilometer geht es schnell und kurvig durchs Tannheimer Tal Richtung Westen, direkt auf die Schlechtwetterfront zu. Ich habe mich in die Startgruppe „unter 8 Stunden“ eingereiht und suche Anschluss an eine schnelle Gruppe. Das Tempo ist hoch, wir ballern ambitioniert auf die schwarzen Wolken zu. Dann kommt der Regen. Nach einigen schweren Tropfen öffnet der Himmel seine Schleusen, es schüttet wie aus Kannen. Innerhalb weniger Minuten bin ich nass bis auf die Knochen, das Wasser steht in den Überschuhen, ich sehe nichts mehr, stecke die beschlagene Brille an den Helm. Auf der Straße ein zentimeterhoher Wasserfilm, Sturmböen von rechts peitschen über die Straße. Mein Rad reagiert nervös, die Hochprofilfelgen mögen keinen starken Seitenwind, schon gar keine Böen. Eine Windbö drückt mich unvermittelt nach links, ich schreie erschreckt auf, halte mit aller Kraft die Balance, die Arme angespannt, verkrampft. Wieder ein Böe. Und noch eine. Dreimal komme ich fast zu Sturz, fange das Rad jedoch, nehme Tempo raus.
Es ist zu gefährlich. Massenhaft steigen Teilnehmer aus.
Rote Rücklichter im weißen Gischt. Etliche Fahrer steigen jetzt entnervt aus, fast 300 werden es auf den ersten zehn Kilometern sein, Dutzende Abbrecher mit ihren Startnummern rollen mir bereits auf der Gegenseite entgegen. Von vorne spritzt mir Wasser ins Gesicht, es ist eine konstante Dusche. Die ersten zwei Stunden trinke ich fast nichts – kein Witz – ich schlucke so viel Regen, dass ich vorerst nicht zur Flasche greifen muss. Ein Zucken, ein brutaler Donnerschlag, direkt vor uns schlägt ein Blitz ein, wenige Meter nur, dann noch einer. Jetzt habe ich wirklich Angst. Mit einem Gewitter ist nicht zu spaßen, das ist verdammt nah. Wir sind in den Bergen. Ich überlege, ob ich auch abbrechen soll. Sonnenaufgang war um 5:38 Uhr, aber es ist jetzt so finster als würde es gleich wieder Nacht. Das Feld ist bereits auf den ersten zehn Kilometern völlig zerpflückt, kleinere Gruppen versuchen beieinander zu bleiben. Ich setze meine Fahrt fort, beschließe, es durchzuziehen.
Die steilen Abfahrten nach Oberjoch fordern mein ganzes Fahrkönnen, an vollen Speed ist nicht zu denken, die Piste ist abwechselnd tückisch und rumpelig, dann glatt und glitschig. Ich juble innerlich über meine großartigen Scheibenbremsen, die zwar immer wieder laut kreischen beim Anfahren der engen Serpentinen, bis die Nässe weggebremst ist. Aber sie halten. Jetzt bloß nicht stürzen, volle Konzentration!
Der Riedbergpass. Roher Schmerz bei bis zu 18%.
Der höchste deutsche Straßenpass ist nicht besonders lang und auch nicht allzu hoch. Aber steil. Meine Kräfte sind noch frisch, ich habe meine Glykogenreserven noch lange nicht aufgebraucht und trete kräftig in die Pedale. Ich will alles geben, nicht frieren, so nass bis auf die Knochen. Dann kommt die Baustelle. Ich kann es kaum glauben, rumple im schönsten Gravel-Style über nassen schlammigen Schotter. Die Reifen sinken ein in den Matsch, nehmen mir jeden Schwung. Ein Glück habe ich mich für den Komfort der breiteren 25er-Reifen entschieden, die ich mit voller Absicht nur auf 6 Bar aufgepumpt habe. Es regnet immer noch, in den Geschmack von Salz und Regen mischt sich Schlamm auf der Zunge. Ich trete mit einer Herzfrequenz von 166 die Rampe hinauf und achte darauf, in dieser frühen Phase nicht zu überziehen. Vielleicht bin ich ein bisschen zu konservativ, aber ich will es ja genießen. Dann ist die Baustelle passiert - und bald darauf auch die Passhöhe.
Jetzt die Abfahrt vom Riedbergpass. Die Nässe ist überall zu spüren, in den Schuhen quatscht das Wasser. Es regnet nach wie vor, die Strecke bleibt anspruchsvoll. Obwohl ich pitschnass bin, sorgt meine Shakedry-Jacke für ein angenehmes Rumpfklima, doch bei der Abfahrt flattert die Jacke arg im Wind und nimmt mir einiges an Schwung und Speed. Ausziehen will ich sie aber auch nicht, dafür bin ich einfach zu nass und zu kalt. Wir rollen auf den Hochtannbergpass zu. Der Regen hat nachgelassen, auch die tückischen Sturmböen. Ich trete konstant um die 220 Watt, das ist meine Leistung, mit der ich die sechs bis acht Prozent Steigung des Passes bewältigen kann, ohne meine aerobe Schwelle zu gefährden. Ich halte die Trittfrequenz hoch, was mit Kompaktkurbel und den ovalen Kettenblättern zum Glück überhaupt kein Problem ist und zwinge mich zu Gleichmäßigkeit. Obwohl ich mit meinen 78 Kilo Körpergröße zu schwer bin, um ein guter Bergfahrer zu sein, geht es gleichmäßig voran.
Als Amateur mit Familie und hartem Job hast du einfach zu wenig Zeit fürs Training
Ich habe rund 3.500 Trainingskilometer in den Beinen und nur rund 20.000 Höhenmeter. Das ist viel zu wenig für so einen Radmarathon, aber ich bringe aus dem Winter eine gute Grundlagenausdauer mit und habe ein gutes Gefühl für meine Limits. Vorn mitfahren kann ich sowieso nicht – weder von der Leistung noch vom Alter. Aber Spaß haben kann ich. Als ich den Hochtannbergpass erreiche, bin ich allein: Die Spitzengruppe ist weit voraus, das weit auseinandergezogene Hauptfeld liegt etliche Minuten hinter mir. Schade, erst mal kein Windschatten für die schnellen Passagen bergab, die jetzt folgen. Vielleicht nach dem nächsten Verpflegungsstopp. Kurz nach dem Hochtannbergpass lege ich einen von vier Stopps ein: Neun Verpflegungsstationen haben die Veranstalter aufgebaut, mehrere Hundert freundliche Helfer, großartiges Essen, Obst, Riegel, Gels, Kuchen, Kekse, Schokolade – was das Herz begehrt. Ich stopfe Bananenstücke, Wassermelone und einen Riegel rein, trinke mit Genuss eine heiße salzige Brühe und fülle jetzt beide Trinkflaschen auf: Den Hochtannbergpass hinauf habe ich eine leer gelassen, um nicht unnötig Gewicht den Berg hinauf schleppen zu müssen.
Marcel Wüst grinst mich in der Verpflegungszone an, er sitzt auf einer Bank und wartet auf seine Gruppe. Marcel ist sehr engagiert beim Tannheimer und macht die Pace für die neun Stunden-Marke. Ich erschrecke: Habe ich so viel Zeit verloren, dass ich bereits an der Neun-Stunden-Marke kratze? Ich spute zur Abfahrt, noch immer bin ich nass und lasse die flatternde Regenjacke an. Das kostet garantiert wieder wertvolle Minuten,ist mir aber lieber als eine Erkältung. Was ich mit meinen 78 Kilo am Berg nicht reißen konnte, muss ich jetzt reinholen, wie es sich gehört für einen typischen Rouleur. Leider dauert es rund 30 Kilometer, bis ich Anschluss an eine flotte Gruppe finde – oder besser: Die Gruppe findet mich. Dann rollt es dahin, ich reihe mich ein, wir fahren jetzt einen Schnitt von deutlich über 40 Stundenkilometer, nähern uns mit konstantem Tempo der 200-Kilometer-Marke und dem letzten steileren Anstieg.
Es hat längst aufgehört zu regnen, sogar die Sonne ist rausgekommen. Beim letzten Verpflegungsstop ziehe ich endlich die Jacke aus, Trikot und Underlayer sind immer noch feucht, auch die Schuhe. Aber die Sonne zeigt sich zaghaft, es ist deutlich wärmer geworden. Der Wind kommt jetzt frontal von vorn, wir wechseln uns mit der Führungsarbeit ab, die Pace bleibt ordentlich. Ich rolle mit dem Puls im grünen Bereich mit, doch sobald ich vorne im Wind fahre, nähert sich die Schwelle mit schnellen Schlägen. Ich gehe links raus, winke den nächsten Fahrer in den Wind. Zum Glück ist die Gruppe groß genug, es ist genügend Raum zum Wechseln für alle.
Dann Kilometer 200, der Schlussanstieg, noch mal rund 300 Höhenmeter. Ich fühle mich erstaunlich gut, habe beim letzten Halt ordentlich gegessen und mein Pulver noch nicht verschossen. Meine schnelle Gruppe ist bei der vorletzten Verpflegungsstation beinahe geschlossen rausgefahren, ich habe noch drei Gels im Trikot und eine volle Flasche und beschließe, nicht mehr zu halten. Gemeinsam mit zwei anderen Fahrern setze ich das Rennen ohne Halt fort. Es geht wieder bergauf. Der Vordermann zieht weg, sein Begleiter jedoch knickt ein, fällt zurück. Ich stehe auf, gehe in den Wiegetritt. Nicht um zu sprinten, nur um die Muskeln zu lockern und kurz zu dehnen. Ich überhole auch den zweiten Mann. Der letzte Anstieg tut jetzt wirklich nochmal weh, das darf er aber auch. Die Herzfrequenz bleibt gut, der Gegenwind nimmt weiter zu. Noch 200 Höhenmeter. Die Kuppe, nein, noch eine Welle. Und noch eine, zefix, nimmt das denn gar kein Ende!
Dann endlich kommt die Ortschaft Grän, noch fünf Kilometer. Diesen letzten Abschnitt kenne ich genau, den bin ich ja erst gestern gefahren zum Einrollen. Noch drei Kilometer. Der Esel sieht jetzt den Stall und fängt an zu rennen. Tannheim bereits in Sicht – oh nein, was ist das, es geht ja noch gar nicht auf die Zielgerade! Eine Extraschleife an Tannheim vorbei, nochmal zwei Kilometer, noch eine Welle bergauf, dann endlich rechts ab, unter der Brücke durch, letzter Kilometer, das Ziel, das Ziel! Diese letzte Schleife ist ein fieser Tritt in die Moral - aber jetzt ist es geschafft.
Einer von 551 Finishern, 8:40:32. Der Sieger ist schon seit zwei Stunden und 23 Minuten im Ziel, trotzdem bin ich zufrieden: Platz 263 der Gesamtwertung, Platz 68 in meiner Altersgruppe „Masters 2“. Das soll für dieses Mal genügen. Ich weiß: Es wäre mehr drin gewesen. Aber ich habe mein Rennen kontrolliert, habe es durchgezogen – und ich habe es genossen, nicht verunglück, kein Sturz, gesund. Bei besseren Bedingungen und mit etwas mehr Taktik kann ich hier klar unter 8 Stunden fahren. Landschaft und Strecke sind einmalig, die Organisation großartig, die Menschen freundlich. Tannheimer Tal, ich komme gerne wieder!